»Ich will, dass die Leute wieder zuhause kochen«

Sabine Werth gehörte 1993 zu den Gründerinnen der Berliner Tafel, nach deren Vorbild deutschlandweit seitdem gut 900 weitere Tafeln entstanden sind. Die Sozialpädagogin ist langjährige, ehrenamtliche Vorsitzende der Berliner Tafel und hat ihr Engagement dabei nie bloß karitativ, sondern immer ernährungspolitisch verstanden. Sabine Werth glaubt an die Ernährungswende und engagiert sich in diesem Sinne etwa für das bedingungslose Grundeinkommen: Weil uns unser Essen nicht billig sein darf.

Stadt Land Food: Sabine, uns ist aufgefallen, dass du, wenn du über die Tafel redest, immer sehr schnell beim Essen, bei den Lebensmitteln, bist und dich nicht nur mit den gesellschaftlichen Verhältnissen aufhältst.

Sabine Werth: Lustig, dass ihr das sagt. Wir überlegen uns nämlich auch schon seit einer Weile, wo eigentlich der Ursprung lag: etwas gegen die Lebensmittelverschwendung zu tun oder für die Unterstützung von Menschen? Und ich stelle dann immer wieder fest, dass sich beides nur gemeinsam denken lässt. Wir waren damals, vor gut 25 Jahren, eine kleine Gruppe von Frauen, die etwas für Obdachlose in der Stadt machen wollten. Ich hatte da einen Artikel über City Harvest New York gefunden: Ehrenamtliche sammelten abends nach Buffets oder Empfängen die Reste ein und brachten sie den Obdachlosen direkt auf die Straße. Wir leben im Überfluss, wir haben Lebensmittel ohne Ende, die unnötigerweise permanent entsorgt werden. Gleichzeitig haben wir aber Notleidende im weitesten Sinne. Sowohl die Bevölkerung, die sich manches gar nicht mehr leisten kann, als auch in den sozialen Einrichtungen. Wenn eine Frauenberatungsstelle ein Frauenfrühstück machen wollte, dann haben halt die Beschäftigten zusammengelegt. Das können die aber auch nicht ewig. Heute wenden sie sich an die Tafel.

Stadt Land Food: Schon in dieser kleinen Geschichte wird deutlich, Essen hat immer auch ein soziales Moment….

Sabine Werth: Es geht immer, auf der ganzen Welt, um eine Umverteilung von Lebensmitteln und es geht immer um die Bedürftigen. In Deutschland ist es ja nicht die Regel, dass die Leute verhungern, dennoch ist ein Leben am Existenzminimum alles andere als schön. Wir merken es ja in unserer täglichen Arbeit: Der größte Teil der Lebensmittel, die wir verteilen, sind Obst und Gemüse – das ist genau das, was Leute, die keine Kohle haben, sich nicht leisten können. Warum fallen die denn auf diese Mistwerbung rein? Schweinenackensteak das Kilo 2,99 Euro – da kann doch niemand glauben, dass das Schwein gut gelebt hat, dass das Schwein gut geschlachtet wurde oder dass der Bauer oder der Metzger gut daran verdient. Aber die Leute essen das Zeug massenweise, weil es so billig ist, weil es ihr Grundnahrungsmittel geworden ist. Ich bin so aufgewachsen: Sonntags gab’s Fleisch und am Montag gab’s vielleicht noch ein Süppchen mit einem Fleischrest drin. Das war’s.

»Der größte Teil der Lebensmittel, die wir verteilen, sind Obst und Gemüse – das ist genau das, was Leute, die keine Kohle haben, sich nicht leisten können.«

Stadt Land Food: Dein Eindruck ist also durchaus, dass sich die Leute, die zur Tafel kommen, tatsächlich besser ernähren?

Sabine Werth: Wir haben zunächst einmal das Gefühl, dass die Leute die frischen Sachen wirklich gerne nehmen, sonst würden sie ja immer liegen bleiben. Das Irre ist ja: Mindestens 30 Prozent der Produkte, die wir verteilen, sind Bio- Produkte. Oder zumindest dass, was ein Discounter Bio nennt. Auch dieses Bio kostet mehr als das Konventionelle. Also greifen die, die wenig haben, entweder zu gar nichts oder zum Billigen. Bio bleibt liegen. Und das kriegen dann wir. Von daher ist es die gesündeste Variante überhaupt, sich über unsere Ausgabestellen Laib und Seele zu ernähren.

Stadt Land Food: Wird denn im Alltag dann auch wirklich gekocht?

Sabine Werth: Wir möchten ganz unbedingt, dass die Familien auch wieder zu Hause kochen. Ich finde nichts schrecklicher als diese Suppenküchen-Bewegung. Wenn Kinder mit Obdachlosen zusammen jedes Mittagessen verbringen, dann mag das ihre Sozialkompetenz steigern, vor allem aber fühlen sie sich erstmal sowas von arm. Wir hatten eine Doktorandin von der Charité, die feststellen konnte, dass sich diejenigen, die sich bei Laib und Seele Lebensmittel holen, gesünder leben als diejenigen, die es nicht tun. Das Problem sind diese ganzen Billigangebote: Alles wird nur noch in die Mikrowelle oder den Backofen geschoben, und da haben sie dann eben, wenn es sechs Personen zuhause sind, sechs Pizzen für 89 Cent die Pizza. Dass man für sechs Personen viel preiswerter Pizza selbst machen kann, die noch viel, viel, viel besser schmeckt und viel gesünder ist, das kriegen die Leute einfach nicht gebacken.

Stadt Land Food: Aber schafft die Tafel damit nicht eine Art Konkurrenzsituation zu den Supermärkten?

Sabine Werth: Wenn das der Fall wäre, dann hätte der Handel schon reagiert. Der Handel ist aber nur interessiert an Umsätzen. Alles andere interessiert den gar nicht. Die haben dem Grunde nach null Interesse, den Tafeln die Lebensmittel abzugeben oder SirPlus oder Foodsharing oder wem auch immer. Die wollen Einnahmen sehen. Genauso wenig habe ich das Gefühl, dass die Leute, die wenig Geld haben, so berechnend an die Sache herangehen. Wir merken das doch ganz konkret an unseren Ausgabestellen: in der ersten Woche sind ganz wenige da. Da haben alle gerade Kohle gekriegt und gehen einkaufen. In der zweiten Woche, ja, da werden es schon ein paar mehr und in der vierten Woche sind sie alle da. Ich habe wirklich nicht das Gefühl, dass wir dem Handel was nehmen. Wenn ich wenig Geld hab, dann zahle ich doch nicht 5,99 Euro für ein Kilo Paprika. Dann kauf ich die Paprika einfach nicht, weil ich es mir nicht leisten kann.

Stadt Land Food: Essen ist zu teuer?

Sabine Werth: Am Erschreckendsten finde ich dabei, dass wir europaweit die billigsten Lebensmittelpreise haben. Und wenn ich mir diese Preise angucke, frage ich mich: Wer soll das finanzieren, wenn’s noch mehr kostet? Also irgendwas ist doch da schief an der Situation. 5,99 Euro für eine Kilo Paprika: Nun kann ich mir natürlich sagen, na ich muss ja keine Paprika essen, wenn sie so teuer sind – ja, aber ist das die Lösung? Ich find’s eine wirklich schwierige Situation, in der wir leben.

Stadt Land Food: Man könnte jetzt argumentieren, lieber saisonale und damit günstigere Produkte zu kaufen.

Sabine Werth: Aber Entschuldigung, gerade Paprika kommen aus dem Treibhaus. Immer. Ich weiß also nicht, warum es da saisonale Schwankungen in den Preisen gibt.

»Der Handel wird nie freiwillig etwas ändern.«

Stadt Land Food: Die Lebensmittelpreise haben sich entkoppelt von der Realität?

Sabine Werth: Absolut. Wenn ich mir, ein umgekehrtes Beispiel, den Preis für einen Liter Milch angucke – davon kann doch niemand existieren. Aber da sind dann auch wir Verbraucherinnen und Verbraucher gefragt, der Handel wird da nie freiwillig etwas ändern. Nehmen wir doch das absolut ärgerliche Thema: Mindesthaltbarkeitsdatum. Vor jeder Bundestagswahl ploppt das Thema kurz auf, aber dann macht sich die Lebensmittellobby an die Arbeit. Der Handel profitiert doch von der Volksdummheit, dass alle glauben, das Mindesthaltbarkeitsdatum sei ein Verfallsdatum. Und das ist gar keine Frage der Intelligenz und auch nicht der Einkommensverhältnisse.

Stadt Land Food: Das Mindesthaltbarkeitsdatum und seine Lobby sind für dich ein Indiz eines kranken Ernährungssystems …

Sabine Werth: ... das grundsätzlich renoviert gehört. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wäre bestimmt nicht der Heilsbringer, aber es wäre ein Signal. Wenn wir nämlich darüber nachdenken, dass Lebensmittel und dass die Arbeit mit Lebensmitteln höher wertgeschätzt werden soll, brauchen wir auch eine Gesellschaft, eine gesamte Gesellschaft, die sich gutes Essen leisten kann. Gleichzeitig muss die Allgemeinheit nicht den Speiseplan von Gutverdienenden subventionieren: Ich brauche weder freie Kitas noch freies, und natürlich besseres und gesünderes Schulessen für alle. Warum sollen denn die, die es sich leisten können, nicht für die Kita oder das Schulessen bezahlen?